Schluss mit dem Selbstoptimierungswahn. Diesen Satz würde ich am liebsten täglich all den Menschen zurufen, die sich nichts Sehnlicher wünschen, als erfolgreich, finanziell frei und generell glücklich im Leben zu sein. Und gleichzeitig aber – durch unbewusste Programmierungen getrieben – alles dafür tun, ihre bewusst gesetzten Ziele aufzuschieben oder gar aktiv zu sabotieren.
Und nur, dass wir uns richtig verstehen, es handelt sich dabei fast immer um positive Persönlichkeiten, die verstanden haben, dass Veränderungen zum Leben dazu gehören wie die Luft zum Atmen, und dass fehlendes mentales Wachstum unweigerlich in Tristesse, Unzufriedenheit und Frustration mündet. Gehört man nämlich zu dieser Kategorie, hat man häufig mit einem viel größeren – und weitgehend unbeachteten – Problem zu kämpfen. Ich spreche von der Tendenz, zu viel verändern zu wollen.
Ja, du hast richtig gelesen. Auch wenn Change Management eine ganz wundervolle Sache ist, kommt es wie immer im Leben darauf an, die richtige Balance zu finden. Oder wie es der Arzt Paracelsus bereits im 15. Jahrhundert formulierte: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“
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ToggleWas ist der Selbstoptimierungswahn?
Übertreibt man es nämlich mit den Veränderungen, dann führt dies mit an ein Schweizer Uhrwerk erinnernder Präzision zu einem Phänomen, das auch als Selbstoptimierungswahn bekannt ist. Damit meine ich den unbewusst verspürten Druck, den Status quo mit aller Macht bekämpfen zu müssen. Und dies führt häufig zu einem fast zwanghaften Drang nach vermeintlicher Verbesserung, neuen Stimuli und einer permanenten Rastlosigkeit.
Die Resultate dieses Zustands sind noch gefährlicher als die altbekannte Veränderungsresistenz. Von einer inneren Unzufriedenheit angetrieben, wird man zu seinem größten Kritiker, probiert wahllos neue Wege aus und übertreibt es mit der Optimierung der vermeintlichen Schwachstellen. Bis der ehemals positive Ansatz zu einer sich selbst verstärkenden Negativspirale wird, die von Angst, Druck und einer Tendenz zu Aktionismus geprägt wird. Egal, ob etwas sinnvoll ist oder nicht, Hauptsache man hat etwas verändert.
Doch damit nicht genug. Denn dieser sowohl schleichend, insbesondere aber unbewusst stattfindende Prozess mündet unweigerlich in Energielosigkeit, permanentem Stress und Überforderung. Und führt in letzter Konsequenz dazu, dass man noch viel unglücklicher ist, als all die Besitzstandswahrer, Status-Quo-Verteidiger und Vergangenheitsfestklammerer zusammen. Und das, obwohl man auf der bewussten Ebene alles dafür tut, das genaue Gegenteil zu erreichen.
Zu viel Veränderung verursacht Stress und macht unglücklich
Diverse empirische Studien (u.a. Stephan Grünwewald und Pr. Dr. Ernst von Kardorff) belegen die negativen Auswirkungen des dauerhaften Veränderungsdrucks auf unsere Psyche und generelle Gesundheit, aber auch der gesunde Menschenverstand legt die gleiche Schlussfolgerung nahe. Kennst du nicht auch Menschen, die es mit dem Change im Laufe der Zeit einfach übertrieben haben? Die ihr Verhalten, ihre Kommunikation, ihre Glaubenssätze, ihre Arbeitsabläufe und ihre vermeintlichen Schwächen so lange optimiert haben, dass sie überhaupt keine Ecken und Kanten mehr besitzen, weil sie komplett glatt geschliffen sind? Vor lauter Selbstoptimierungswahn haben diese Menschen überhaupt nicht wahrgenommen, dass der Kipppunkt längst überschritten wurde, durch den sich ihre ursprünglich positiven Veränderungen verselbstständigt haben.
Was ich damit meine? Dass grundsätzlich gute Eigenschaften ab einem bestimmten Punkt kontraproduktiv oder sogar destruktiv werden können. Lass mich dir einige Beispiele geben. Würdest du mir zustimmen, dass Liebe etwas Wunderschönes ist? Gut, das war jetzt eine rhetorische Frage. Aber was passiert, wenn man es übertreibt, wenn man obsessiv liebt? Dann führt diese eigentlich positive Eigenschaft irgendwann zu Besessenheit und belastender Klammerei. Aus wünschenswerter Sparsamkeit wird bei dauerhafter Übertreibung Geiz. Aus Skepsis wird Paranoia. Und Offenheit kann irgendwann leicht in Richtung Beliebigkeit kippen. Ich könnte die Liste noch weiterführen, aber ich denke, dass deutlich geworden ist, worauf ich hinauswill, nicht wahr?
Der Selbstoptimierungswahn im Alltag
Um den Kipppunkt im Kontext von Veränderungen zu veranschaulichen, wollen wir uns den typischen Tagesablauf eines fiktiven Menschen anschauen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als ein erfolgreiches und glückliches Leben zu führen. Um es etwas plastischer zu machen, wollen wir diese Person Hans-Uwe nennen, der vor Kurzem seinen gut bezahlten Job als IT-Administrator in einem großen Konzern hingeschmissen hat, um seiner Leidenschaft zu folgen und sich selbstständig zu machen. Wie genau sein Geschäftsmodell aussieht, kann Hans-Uwe noch nicht genau formulieren, aber er spürt genau, dass es sich um sein absolutes Herzensbusiness handelt.
Angetrieben von den gängigen Botschaften auf Social Media, den Ratschlägen in Büchern und den Kalendersprüchen einschlägiger YouTube-Videos hat Hans-Uwe es sich auf die Fahne geschrieben, seine persönliche Entwicklung nicht dem Zufall zu überlassen. Aus diesem Grund steht er auch bereits um 5 Uhr morgens auf. Warum? Ganz einfach. Uwe ist Mitglied im berühmten 5am Club. Während andere noch schlafen, arbeitet Uwe bereits am Thema Persönlichkeitsentwicklung. Und das, obwohl er eigentlich ein Nachtmensch ist. Unausgeschlafen und müde startet er mit einer Stunde im Gym, um sich dort mit einem intensiven EMS-Workout und einer neuartigen Yogatechnik optimal auf den Tag einzustellen. Nach einer kalten Dusche steht zunächst eine Meditation auf dem Terminplan, gefolgt vom Ausfüllen des Erfolgsjournals. Um 7 Uhr frühstückt Hans-Uwe dann. Da er allerdings seine Kalorien genauestens mit einer App trackt, gibt es statt Brötchen mit Nutella nur einen Bullet Proof Coffee, denn jemand hat Hans-Uwe einst erzählt, dass dies das wahre Breakfast for Champions sei.
Hungrig, aber entschlossen visualisiert er dann seine Ziele für den Tag, die er mit der SMART-Formel schriftlich festgehalten hat. Da dies allein aber noch nicht ausreichend ist, unterstützt er den Prozess mit entsprechenden Affirmationen, die er vor dem Spiegel aufsagt und mit seiner persönlichen Power Pose abschließt. Die To-do-Liste für den Vormittag hat er mit der Eisenhower-Matrix festgelegt, und damit er maximal produktiv ist, nutzt er die Pomodoro-Technik für eine optimale Nutzung seiner knappen Zeit. In den wenigen Pausen holt er sich immer wieder Inspiration auf Instagram, wo er der Crème de la Crème der Motivationsbranche folgt, die ihn regelmäßig mit Zitaten versorgen, die ihn daran erinnern, wie wichtig es ist, ein Adler zu sein und auf keinen Fall ein Huhn.
So langsam knurrt Hans-Uwe der Magen richtig laut, denn weil er der Philosophie des Intermittent Fasting folgt, darf er nur zwischen 12 Uhr und 20 Uhr feste Nahrung zu sich nehmen. Da Gewinner aber wissen, dass Kohlenhydrate müde machen, genießt er einen Green Smoothie aus seiner dreiwöchigen Saftkur, die er sich gerade für mehrere hundert Euro gekauft hat. Auf dem Weg zu einem Networkingtermin (er ist immer offen für Synergien) vertrödelt Hans-Uwe nicht etwa seine Zeit, sondern hört stattdessen den Podcast eines von ihm bewunderten Gurus (natürlich in 2,7-facher Geschwindigkeit), der ihn auditiv immer wieder daran erinnert, dass man es nur zu etwas bringen würde, wenn man bereit ist, die Extra-Meile zu gehen. Da er vor dem Termin noch etwas Zeit hat, übt er sich in der Wim Hof Atemtechnik, die ihn in die Lage versetzt, noch effizienter mit seinem stressigen Alltag als Entrepreneur in Spe umzugehen.
Nach einem gleichsam anstrengenden wie ergebnislosen Nachmittag macht Hans-Uwe nicht etwa Feierabend, denn er ist ja schließlich ein Adler. Stattdessen loggt er sich in den wöchentlich stattfindenden Inner Circle Call seiner exklusiven Gewinnermastermindgruppe ein, die von seinem Guru angeboten wird, und dessen Mitglied er seit Kurzem für einen Jahresbeitrag von nur 35 Tausend Euro geworden ist. Hans-Uwe hat jetzt zwar Probleme, seine Miete pünktlich zu bezahlen, aber der Guru hat ihm versichert, dass er es nie zu etwas bringen würde, wenn er nicht in seine persönliche Entwicklung investieren würde. Nach dem Meeting hat er zwar immer noch keine Idee, wie er zu mehr Geld kommen könnte, dafür hat er aber den brandneuen Onlinekurs des Coaches gekauft, den es nur an diesem Abend zum Sonderpreis für 2.999 € gab.
Zum Ausklang des Tages gönnt sich Hans-Uwe eine Session mit seiner brandneuen Mind-Spa App, bevor er um kurz nach Mitternacht noch schnell zu seinem Erfolgstagebuch greift, um den Tag schriftlich zusammenzufassen. Doch er muss sich beeilen, denn schon in wenigen Stunden ist es wieder 5 Uhr, und der ganze Stress geht von vorne los.
Der Selbstoptimierungswahn als Ursache für Unzufriedenheit
Ja, ich gebe zu, dass ich zur Verdeutlichung manche Dinge etwas übertrieben dargestellt habe. Aber kommt dir all das nicht auch ein wenig bekannt vor? So wie Hans-Uwe geht es mittlerweile vielen Menschen. Und zwar unabhängig davon, in welcher Lebenssituation sich diese aktuell befinden. Es betrifft die Studentin genauso wie den Solopreneur, die Managerin, die Außendienstlerin oder den alleinerziehenden Vater. Kein Wunder, denn die Welt dreht sich immer schneller, und die Taktung, die Intensität und die Unberechenbarkeit von externen Veränderungen und globalen Krisen haben im Laufe der letzten Jahre massiv zugenommen.
Algorithmen bestimmen unseren Alltag, für jedes Problem gibt es heute eine passende Software und eine nicht gerade kleine Anzahl an Jobs wird in der Zukunft von künstlicher Intelligenz oder Maschinen übernommen werden. Immer mehr Menschen spüren instinktiv, dass wir uns an einem entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte befinden. Und diese Entwicklung hat dazu geführt, dass Schlagworte wie Change Management, Transformation und Persönlichkeitsentwicklung mittlerweile omnipräsent geworden sind. Weil sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass man entweder auf den Zug der Veränderung aufspringen kann, oder sich irgendwann einsam und verlassen am Bahnsteig wiederfindet.
An dieser Stelle kommt die übertriebene Selbstoptimierung ins Spiel. So erfreulich es auf den ersten Blick auch erscheinen mag, dass der aktive Umgang mit dem Wandel eine immer größere Priorität genießt, so fatal sind häufig die konkreten Resultate der Anstrengungen. Denn die traditionellen Seminare, Programme, Schulungen und Bücher, die sich dem Thema widmen, basieren alle auf einer grundlegenden Prämisse: So wie man es bisher gemacht hat, ist es leider nicht mehr ausreichend. Es brauche neue Ideen, neue Wege und vor allem eines: Die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit durch kontinuierliche Veränderungen.
Die fatalen Botschaften der Persönlichkeitsentwicklung
Doch wie sehen die darauffolgenden Bemühungen in der Regel aus? Schlag ein beliebiges Buch aus der Self-Help Szene auf, und du wirst die immer gleichen Botschaften finden, die mehr oder weniger subtil kommuniziert werden:
- Dir fehlt etwas.
- Du bist nicht gut genug.
- Du hast dringenden Optimierungsbedarf.
Als Lösungen werden dann Modelle, Techniken und Werkzeuge vorgeschlagen, die alle in einer makellosen, außergewöhnlichen und vor allem perfekten Zukunft münden. Und die Versprechen klingen ja durchaus verlockend. Jeder könne seinen Traum leben, einen gut bezahlten Job haben, fit und gesund sein, glückliche Beziehungen führen, finanziell ausgesorgt haben und frei von Sorgen sein. Wenn, ja wenn man die Anweisungen der Experten nur perfekt und bis ins letzte Detail ausführen würde. Natürlich springt einem der Haken an dieser Herangehensweise sofort ins Auge.
Wir Menschen sind einfach nicht perfekt. Wir haben unsere Schwächen, sind nicht immer so diszipliniert, wie wir es gerne wären und auch unsere Motivation ist gelegentlich im Keller. Und wenn unperfekte Menschen nach einem perfekten Zustand streben, dann ist das Desaster zwangsläufig vorprogrammiert. Getriggert von den Suggestionen des „Dir fehlt etwas, du bist nicht gut genug und du hast dringenden Optimierungsbedarf“ versucht man verzweifelt, die eigenen Schwachstellen abzubauen.
Den Status quo mit aller Macht zu bekämpfen. Die eigene Persönlichkeit neu aufzustellen. Nichts dem Zufall zu überlassen und jedes einzelne Detail des Lebens zu steuern, zu kontrollieren und zu optimieren. Angetrieben von Tools, Methoden und der regelmäßigen Erinnerung an den notwendigen Optimierungsbedarf entwickelt man sich sukzessive zu einer menschlichen Laborratte, die so sehr damit beschäftigt ist, den vermeintlichen Mangel zu beseitigen, dass man irgendwann den eigentlichen Grund aus den Augen verliert, warum man ursprünglich mit all den Mühen begonnen hat: Ein erfülltes und zufriedenes Leben zu führen, das diesen Namen auch verdient hat.
Persönliche Veränderung bedeutet nicht, etwas optimieren zu müssen
Hand aufs Herz, hast du bei all den Veränderungen im persönlichen Alltag, dem dreiundzwanzigsten beruflichen Changeprozess innerhalb von fünf Jahren und den zahlreichen Krisen, mit denen wir uns immer häufiger auseinandersetzen müssen, nicht auch schon gedacht: „Mir reicht es jetzt, ich bin doch keine Maschine“? Dann möchte ich dir gerne einen Ansatz vorstellen, der es dir erlaubt, positive und nachhaltige Veränderungen zu erreichen, ohne dich dabei im Selbstoptimierungswahn zu verfangen. Meine These lautet:
Veränderung gelingt dann am besten, wenn du dich von dem Gedanken verabschiedest, dass es etwas zu optimieren gäbe.
Das exakte Gegenteil ist nämlich der Fall, und am besten liest du dir den folgenden Satz so oft durch, bis du ihn tief in deinem Innersten verankert hast:
Du bist gut so, wie du bist.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass dieser Satz ein wenig kitschig daherkommen könnte, aber er trifft den Nagel nun einmal auf den Kopf. Du bist eine wundervolle und wertvolle Persönlichkeit mit den unterschiedlichsten Facetten. Mit all deinen Stärken und Schwächen. Mit all deinen Ecken und Kanten. Und egal, ob du mit deiner aktuellen Lebenssituation zufrieden bist, oder am liebsten noch einmal komplett von vorne anfangen würdest, es gibt nichts, aber auch gar nichts zu optimieren.
Schluss mit dem Selbstoptimierungswahn
Gibst du mir deine Hand drauf, dass du diese Tatsache nie wieder vergessen wirst? Wunderbar, dann hat sich für mich das Schreiben dieses Artikels bereits jetzt mehr als gelohnt. Und selbstverständlich bedeutet die Akzeptanz der individuellen Einzigartigkeit nicht, dass deine Zukunft nicht noch glücklicher, erfolgreicher oder erfüllter sein könnte. Ganz im Gegenteil, ich würde mir sogar wünschen, dass dein Kopf voller großer Ideen, mutiger Ziele und komplett verrückter Träume ist. Du weißt schon, ich spreche von der Art von Träumen, bei denen dein Umfeld anfängt zu schwitzen, und dich fragt: „Du willst WAS tun?“
Glaub mir, wir alle haben diese Träume. Aber nur die wenigsten trauen sich auch, sie wirklich zu leben. Weil die große Masse sich lieber im destruktiven Labyrinth des Selbstoptimierungswahns verirrt, anstatt die notwendigen Veränderungen mit der richtigen Balance anzugehen. Denn nicht alles, was alt ist, ist automatisch schlecht. Und nicht alles, was neu ist, ist per se gut. Es kommt immer auf eine ausgewogene Mischung an.
Wenn du gar nichts veränderst, dann bleibt eben auch alles, wie es ist. Und dieses fehlende persönliche Wachstum ist es, warum ein Großteil unserer Gesellschaft heute so frustriert und desillusioniert durch den Alltag geht. Genauso falsch ist es allerdings auch, wenn du es mit der Veränderung übertreibst. Wenn du keinen Stein auf dem anderen lässt, zu viel auf einmal willst und dir so sehr einredest, dass du die eigenen Schwachstellen abbauen müsstest, dass du dich im Laufe der Zeit immer mehr von sich selbst wegbewegst.
Veränderung ist Balance. Immer. Und dabei wünsche ich dir jeden Erfolg dieser Welt.